NS-Rassenpolitik:
Dr. Bruno Beger
Rassenideologie
Die Nationalsozialist*innen wollten nicht nur die ihnen verhasste „jüdische Rasse“ vernichten. Sie suchten zudem nach Ursprüngen einer „arischen Herrenrasse“ in Tibet. Und sie wollten die kaukasischen Bergvölker zur Schärfung ihrer Rassenideologie genauestens vermessen lassen. Mediziner*innen, Zoolog*innen, Anthropolog*innen und andere Berufsgruppen waren an den damit verbundenen Massenmorden beteiligt. Der Anthropologe Dr. Bruno Beger, Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauers letzter Fall, war einer von ihnen.
Der 1911 geborene Beger begann seine Rasseforschungen bereits als Student. Er wollte Karriere machen und sich als Anthropologe beweisen. Geblieben ist von seinem Ehrgeiz allein seine Mitwirkung an den nationalsozialistischen Massentötungen. Als Mitglied der vom Reichsführer SS Himmler im August 1942 befohlenen Kaukasus-Expedition, dem „Sonderkommando K“, wollte Beger an der „rassischen Totalerforschung“ des Kaukasus mitwirken. Die Niederlage der Wehrmacht vor Stalingrad machte die geplante Großexpedition in den Kaukasus jedoch zunichte.
Mehr oder weniger gezwungenermaßen galt Begers Hauptinteresse von da an dem Aufbau einer „jüdischen Schädel- und Skelettsammlung“ an der von den Nationalsozialist*innen eingerichteten Reichsuniversität Straßburg. Im Juni 1943 fuhr er zusammen mit dem frisch habilitierten Frankfurter Anthropologen Hans Helmut Fleischhacker ins KZ Auschwitz, wo nach Auskunft von Adolf Eichmann aktuell „geeignetes Material“ zur Verfügung stand.
150 KZ-Häftlinge sollten für die geplante Skelettsammlung vermessen werden. Aufgrund einer Fleckfieberepidemie musste Beger das Vorhaben, für das er 115 Personen auswählte, darunter 109 Juden und Jüdinnen, vier „Innerasiaten“ und zwei Polen, jedoch vorzeitig abbrechen. 86 Juden und Jüdinnen, die Beger noch vermessen wollte, wurden daraufhin ins KZ Natzweiler-Struthof im Elsass gebracht. Eilig wurden sie in einer improvisierten Gaskammer im August 1943 ermordet.
Skelettsammlung/Ahnenerbe
1959 begannen die Untersuchungen gegen Dr. rer. nat. Bruno Beger (1911-2009; ehedem SS-Hauptsturmführer), Privatdozent Dr. Hans Helmut Fleischhacker (1912-1992; Angehöriger der Waffen-SS) sowie gegen den kaufmännischen Angestellten Wolf-Dietrich Wolff (SS-Obersturmführer) im Zuge der Frankfurter Ermittlungen wegen aller im KZ Auschwitz begangenen Verbrechen. Beger, Fleischhacker und Wolff wurden schließlich beschuldigt, sich zwischen 1941 und 1943 mit einer „seltsamen Skelettsammlung“ befasst zu haben.
Im Anatomischen Institut der Reichsuniversität Straßburg, so der Holocaustforscher Raul Hilberg (1926-2007), geschah 1943 „das Äußerste, dessen deutsche Ärzte fähig waren“. Dr. Beger und Dr. Fleischhacker suchten im KZ Auschwitz Häftlinge für eine „jüdische Schädel- und Skelettsammlung“ aus. Dr. Beger tat dies als Leiter der Untersuchungsgruppe und Miturheber des Projekts, SS-Obersturmführer Wolff als persönlicher Referent des Geschäftsführers der SS-Organisation „Das Ahnenerbe“, Wolfram Sievers (1905-1948).
„Das Ahnenerbe“ war eine Initiative des Marburger Frühhistorikers Prof. Dr. Hermann Wirth, der dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler den Vorschlag machte, eine wissenschaftliche Einrichtung zur germanischen Frühkunde zu gründen. Seit 1938/39 war Himmler Präsident der obskuren „Forschungs- und Lehrgemeinschaft ‚Das Ahnenerbe‘“. Er löste damit Prof. Dr. Walther Wüst ab, ein Indologe, seit 1935 Dekan der Philosophischen Fakultät und seit 1941 Präsident der Universität München. Wüst fungierte fortan als Kurator und wurde 1942, als „Das Ahnenerbe“ dem Stab des Reichsführer-SS unterstellt wurde, zu dessen Amtschef ernannt.
Anklage
Die 108-seitige Anklageschrift (Js 8/66 GStA), die Generalstaatsanwalt Dr. Bauer am 8. Mai 1968 nach bald zehnjährigen Ermittlungen unterzeichnete und die – ein gutes halbes Jahr nach Fritz Bauers überraschendem Tod – zum Eröffnungsbeschluss vor Gericht führte, enthüllte die mörderische Tat.
Die Anschuldigung gegen die drei SS-Führer des „Ahnenerbe“ lautete, „in Berlin, Auschwitz, Natzweiler und Straßburg in den Jahren 1942 und 1943 gemeinschaftlich mit anderen aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch und grausam 115 Menschen getötet zu haben“. Begangen hatten sie die Tat „zum Zwecke der Aufstellung einer Schädel- und Skelettsammlung für das Anatomische Institut der ‚Reichsuniversität Straßburg‘“ (Anklage, GStA Frankfurt, S. II). Das Anatomische Institut unter Leitung von Prof. Dr. August Hirt – er beging im Juni 1945 Selbstmord – unterhielt auf Veranlassung Himmlers im KZ Natzweiler eine Versuchsstation mit Lost (flüssiger Kampfstoff). Hirt war Miturheber der Sammlung für die Zwecke seines anatomischen Instituts.
Der Vorschlag, die Schädel- und Skelettsammlung zunächst in die Sowjetunion zu verlegen, stammte laut Anklage von Dr. Beger. Der Auftrag ging auf Himmler zurück. Die Angeschuldigten, so die Anklage, verfolgten dann im KZ Auschwitz einen gemeinsamen Plan und ein gemeinsames Ziel: Die Tötung der Häftlinge zwecks Verwertung ihrer Schädel und Skelette. Beger wollte eine „anthropologische Schädelsammlung“ erstellen, Hirt interessierten die Leichen, das heißt die Skelette „als Anschauungsmaterial … und die übrigen Leichenteile für Sektionszwecke“ (Anklage, GSTA Frankfurt, S. 87).
Anstelle der geplanten 150 waren es am Ende 115 Menschen, die Beger im KZ Auschwitz auswählte. Die Leichen der 86 in der Gaskammer des KZ Natzweiler ermordeten Opfer – das Schicksal der anderen 29 ist unbekannt – wurden seziert und im Keller der Straßburger Anatomie konserviert. Die Sammlung sollte zur Spurenverwischung aufgelöst werden, doch dazu kam es nicht und die Alliierten fanden bei Kriegsende die Überreste.
Der Beschuldigte Dr. Fleischhacker nahm mit Dr. Beger die Vermessungen der Häftlinge im KZ Auschwitz sowie die Überstellung in das KZ Natzweiler vor. Zwei Zeugen, die bereits im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess ausgesagt hatten, der Wiener Grafiker Ernst Toch und Hermann Reineck aus Frankfurt Main, bekräftigten die Anklage. Beide waren Häftlingsschreiber im KZ Auschwitz. Toch musste die Nummern der für die Vermessung vorgesehenen Opfer notieren und Reineck hatte die Durchführung der Messungen vor Block 28 beobachtet. (Anklage, GStA Frankfurt, S. 55 f.) Der Angeschuldigte Wolff erledigte die erforderlichen koordinierenden Aufgaben. Er beschaffte auch das Gas für die Ermordung der Häftlinge (Anklage, GStA Frankfurt, S. III). Die Anklage erging wegen gemeinschaftlichen Mordes: „Die Angeschuldigten haben bei diesem mehrfachen Mord als Mittäter mitgewirkt.“
Zwei Jahre und elf Monate nach der Anklageerhebung, am 6. April 1971, endete Fritz Bauers letzter Fall.
Das Verfahren gegen den Beschuldigten Wolff wurde wegen Verjährung eingestellt, bereits einen Monat vorher, am 5. März 1971, wurde Dr. Fleischhacker von der Beihilfe zum Mord freigesprochen. Die Begründung lautete, dass ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er bei der Selektion der Häftlinge in Auschwitz vom Zweck der Untersuchungen – dem Tötungsplan – gewusst habe. Daher liege eine „strafbare Beihilfe zum Mord nicht vor“.
Dr. Beger wurde wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, allerdings nicht als Miturheber der „seltsamen Skelettsammlung“. Die Untersuchungshaft wurde angerechnet. Im Hinblick auf das Gesamtgeschehen urteilten die Richter: Mörder der 86 Häftlinge waren Himmler und Prof. August Hirt, der Leiter der Anatomie in Straßburg, die an der Erstellung der „Sammlung“ persönlich interessiert waren. Hirt aber hatte sich, wie gesagt, im Jahr 1945 der Strafe ebenso entzogen wie Heinrich Himmler: Beide begingen Selbstmord. (LG Frankfurt, 4 Ks 1/70, S. 1a, 25 und 72).
Als hätte es keine Verantwortlichen gegeben. Eine Einstellung, ein Freispruch und eine Mindeststrafe.
Zeitungsartikel
Gedenken an die Opfer
Dem Tübinger Journalisten und Politikwissenschaftler Hans-Joachim Lang gelang es 2004, den Opfern der NS-Mediziner ihre Namen zurückzugeben. Er publizierte die Lebensgeschichten unter dem Titel „Die Namen der Nummern“ und veröffentlichte eine Webseite, auf der die Kurzbiographien nachlesbar sind. Auf dem jüdischen Friedhof von Straßburg wurde 2005 ein Grabstein errichtet.
Die Universität Straßburg beauftragte eine Historikerkommission mit der Recherche der Geschichte der „Reichsuniversität“. Auch die Vorgeschichte der Skelettsammlung wurde neuerlich durchforstet.
Die jüngste Kontroverse darüber, ob der Beschuldigte Beger aufgrund seiner Rasseforschungen an einer Schädelsammlung von Asiat*innen interessiert war, während Hirt nie ein Interesse an einer „jüdischen Skelettsammlung“ für sein Institut gehabt habe – was wiederum Beger zum Alleinurheber für die „seltsame Skelettsammlung“ gemacht hätte – widerlegte die Kommission 2022.
Rezeption
Das Urteil im Beger-Prozess entsprach der herrschenden Rechtsprechung. Während die Anklage die Errichtung der Skelettsammlung als eine einzige Handlung (Tateinheit) ansah, löste das Gericht das Gesamtgeschehen in viele Einzelhandlungen auf. Bis hin zum Einschütten des Zyklon B in die Gaskammern. Fritz Bauer hatte diese Auffassung bereits nach dem Auschwitz-Urteil, auf das die Richter im Beger-Urteil Bezug nahmen, als Atomisierung des Gesamtgeschehens der „Endlösung der Judenfrage“ kritisiert. Diese sei keine „Summe von Einzelereignissen“ gewesen.
Den Beschuldigten wurde mangelndes Unrechtsbewusstsein zugutegehalten. Ihre ideologische Verblendung durch die NS-Rassenideologie habe ihre Kritikfähigkeit, die „Bereitschaft zum Widerspruch gegenüber den Maßnahmen der SS-Führung“, herabgesetzt (LG Frankfurt, 4 Ks 1/70, S. 90). Von einer ethisch begründeten Verantwortung und Verweigerungspflicht wurden sie damit freigesprochen. Nur Himmler und Prof. Dr. Hirt wussten demzufolge, „dass die Opfer allein ihrer Judenheit wegen vogelfrei und deshalb zum Tode bestimmt waren“ (ebd., S. 73 f.).
Wie Jahre zuvor das Auschwitz-Urteil verlegte das Urteil im Beger-Prozess die Taten der Angeklagten in ein fiktionales Reich des Bösen. Überzeugte Nazis und Rassisten konnten hier mit gutem Gewissem töten – wie Beger und Fleischhacker. Bei wem sich das Gewissen doch regte, der konnte sich auf eine falsch verstandene Pflichtenethik und Gehorsam berufen, um als Gehilfe davonzukommen – wie Wolff.
Als hätte es außer Hitler, Himmler, Heydrich und ein paar SS-Führern keine Nazis in der deutschen Gesellschaft gegeben.
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Fritz Bauers Büro 1956
Strafrechtsreform
Glossar
Quellen:
Generalstaatsanwaltschaft (GStA) Frankfurt am Main, Anklageschrift gegen Beger u. A. wegen Mordes, Js 8/66 GStA, 8. Mai 1968.
Landgericht (LG) Frankfurt am Main, Urteil in der Strafsache Beger und Wolff, 4 Ks 1/70, 6. April 1971.
Landgericht Frankfurt am Main, 4 Ks 1/70, Urteil im Verfahren gegen PD Dr. Hans Helmut Fleischhacker, 5. März 1971.
Literatur:
Fritz Bauer, “Im Namen des Volkes. Die Strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit, in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach: Eine Deutsche Bilanz 1945–1965. München, Wien, Basel: Kurt Desch, 1965, S. 301–314.
Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 2. Frankfurt am Main: Fischer TB, 1990 (Orig. 1961).
Michael H. Kater, Das „Ahnenerbe“ der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches. München: Oldenbourg, 2. ergänzte Auflage 1997 (Studien zur Zeitgeschichte, Band 6); 4. Aufl. 2006.
Friedrich Karl Kaul, „Das ‚SS-Ahnenerbe‘ und die ‚jüdische Skelettsammlung‘ an der ehemaligen „Reichsuniversität Straßburg’“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 16 (1968), H. 11, S. 1460-1474.
Hans-Joachim Lang, Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2004; Frankfurt am Main: Fischer-TB, 2007.
Julien Reitzenstein, Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im ‚Ahnenerbe‘ der SS. 1. Auflage. Paderborn: Schöningh, 2014.
Sabine Schleiermacher, „Die SS-Stiftung ‚Ahnenerbe‘. Menschen als Material für ‚exakte Wissenschaft’“, in: Rainer Osnowski (Hrsg.), Menschenversuche. Wahnsinn und Wirklichkeit. Köln: Kölner Volksblatt, 1988, S. 70-87.
Irmtrud Wojak, „Das ‚irrende Gewissen‘ der NS-Verbrecher und die deutsche Rechtsprechung. Die ‚jüdische Skelettsammlung‘ am Anatomischen Institut der ‚Reichsuniversität Straßburg’“, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), „Beseitigung des jüdischen Einflusses…“. Antisemitische Forschung, Eliten und Karrieren im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1999, S. 101-130.
Irmtrud Wojak. Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biografie. Neuauflage, Eschenlohe: BUXUS EDITION, 2019.