Gegen Verjährung
Als sich der Gesetzgeber 1964 erneut mit der bevorstehenden
Verjährung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen
auseinandersetzen musste, machte Dr. Fritz Bauer seine Stimme
dagegen geltend und erläuterte die konstruktive, heilende Wirkung
der NS-Verfahren – auch wenn diese „eine bittere Arznei für das
deutsche Volk“ seien.
Schlussstrich-Wünsche
Nach deutschem Strafrecht verjähren Mordtaten nach 20 Jahren, so dass Bundesregierung und Bundestag 1964/65 vor der Frage standen, ob sie durch legislative Maßnahmen sicherstellen wollten, dass auch nach dem 8. Mai 1965 NS-Kapitalverbrechen verfolgt werden konnten und sollten, die bisher nicht zur Anzeige gebracht oder durch Haftbefehl von der Verjährung ausgeschlossen worden waren.
Die Verjährung der NS-Gewaltverbrechen wurde im Jahr 1964 zu einem Zeitpunkt zum Thema, als Bundestagswahlen bevorstanden und laut Meinungsumfragen (1963 und 1965) des Allensbacher Instituts für Demoskopie über 50 Prozent der Deutschen zustimmten, dass es gut wäre, „endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“. 60 Prozent sprachen sich für eine Verjährung der während des NS-Regimes begangenen Mordtaten aus. Bauer konstatierte, dass im Vorsommer 1964 laut einer Umfrage des DIVO-Instituts nur 40 Prozent der Bevölkerung vom Auschwitz-Prozess gehört hatte und von den 60 Prozent, die zugaben, informiert zu sein, 39 Prozent „über die Vergangenheit Gras wachsen lassen“ wollten. Der Wunsch nach einer Amnestie der Massenmörder spreche für einen „ziemlich weitverbreiteten Wunsch der deutschen Menschen, in Ruhe gelassen zu werden.“
Da die Regierungsparteien schon Jahre zuvor eine Verlängerung der Verjährungsfrist ablehnten, schien Bauer eine Diskussion „ziemlich müßig“, zumal vor der Bundestagswahl. Die Frage der Verjährung sei „ein Politikum geworden, was als Symptom für das, was als Bewältigung der Vergangenheit bezeichnet zu werden pflegt, bedauerlich genug ist“, erklärte Bauer auf eine Anfrage. (3) Das kleine Häuflein der Demonstrierenden vor dem Münchner Gericht im September 1964 sprach in dem Zusammenhang Bände.
„Bittere Arznei“ mit heilender Wirkung
Der Generalstaatsanwalt vertrat entgegen der Mehrheit in der deutschen Bevölkerung die Auffassung, die „bittere Arznei“ der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen müsse – auch weiterhin – geschluckt werden. Er sah sie als ein Mittel zur Heilung und zum Neuaufbau, als notwendig für die Gestaltung der an den Grundrechten orientierten Demokratie. Während seine Gegenspieler in der CDU und explizit Bundeskanzler Konrad Adenauer die NS-Prozesse als notwendiges Übel und Mittel zur Abgrenzung von Vergangenem bewerteten, konnte der Jurist Bauer ihnen viel Positives und Reinigendes abgewinnen.
Schon aus der eigenen Erfahrung in der Opposition gegen das Aufkommenden der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik war Bauer sich im Klaren, dass es darum ging, die deutsche Öffentlichkeit möglichst nicht in der Konfrontation mit den Opfern und Verfolgten des NS-Regimes zu spalten.
Viele der Remigranten machten diese Erfahrung und behielten daher ihre eigenen Erfahrungen für sich. Oder sie versuchten wie Fritz Bauer an die gedanklichen Linien beispielsweise eines Bundespräsidenten Theodor Heuss anzuknüpfen, der die NS-Vergangenheit wenigstens zum Thema machte und insofern eine staatliche Gegenfigur zur wirkungsmächtigen Deutungsmacht abgab, die den Nationalsozialismus ausblenden und einen Schlussstrich ziehen wollte. Aus dem Grund stellte Bauer seinem 1964 in der Tribüne publizierten Beitrag zur Verjährung auch ein Zitat von Bundeskanzler Erhard voran, das lautete: „Für mich wäre es unerträglich, wenn die brutalen und gemeinen Massenmörder nicht mehr der Strafe unterworfen wären.“
Keine Verjährung von NS-Gewaltverbrechen
Die Schlussfolgerung im Hinblick auf die 20 Jahre nach den Geschehnissen drohende Verjährung der Mordtaten konnte für Bauer nur lauten, „durch ein Gesetz die Verjährungsfrist für Mordtaten, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen im nazistischen Unrechtsstaat begangen worden sind, zu verlängern.“ Ein solches Gesetz verletze weder das Rückwirkungsverbot („keine Strafe ohne Gesetz“) noch den Gleichheitsgrundsatz („Sondergesetz“). Mord war während des Nazi-Regimes ebenso strafbar wie danach. Das Gesetz würde mit den Nazi-Tätern auch eine Gruppe treffen, die sich von den üblichen Kriminellen deutlich unterschied, was die Schwierigkeiten bei ihrer Verfolgung und das Ausmaß der Verbrechen beträfe, während der Gleichheitssatz „die gleiche Behandlung gleicher Fälle“ gebiete. Eventuell könne erwogen werden, so Bauer, ob die Verjährungsfrist für „Mordtaten allgemein zu erhöhen wäre“.
Sein Plädoyer lautete, „die magere Zwischenbilanz der seitherigen Verfahren gebietet nicht ihren Abbruch, sondern um der zukünftigen Generationen willen ihre Fortsetzung.“
In der emotionalen Bundestagsdebatte über die Aufhebung der Verjährungsfrist am 10. März 1965 erklärte Bundesjustizminister Bucher (FDP), wir müssten lernen, mit den Mördern zu leben: „Wir müssen es.“ Was als „Sternstunde des Parlaments“ gilt und gerne als Ereignis in die bundesrepublikanische „Erfolgsgeschichte“ eingereiht wird, brachte vorerst nur den Kompromiss, dass der Beginn der Verjährungsfrist auf den 1. Januar 1950 festgelegt wurde, womit die Ahndung der nazistischen Mordtaten bis Ende 1969 ermöglicht wurde. Erst am 26. Juni 1969 hob der Bundestag nach erneuter Diskussion die Verjährung für Völkermord auf, seit dem Jahr 1979 ist Mord von jeglicher Verjährungsfrist ausgenommen. Fritz Bauer, der im Jahr 1968 starb, erlebte diesen Durchbruch nicht mehr.
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Genocidium
Fritz Bauer’s Büro 1968
Glossar
Fritz Bauer, „Die Verjährung nazistischer Mordtaten“, in: Vorgänge: Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 4 (1965), H. 2 , S. 49.
Fritz Bauer, „Die Verjährung nazistischer Massenverbrechen“, in: ÖTV Stuttgart (Hrsg.), Vergessen, vergeben, verjähren?. Stuttgart 1965, S. 25-32.
Fritz Bauer, „Die Verjährung der nazistischen Massenverbrechen“, in: Tribüne: Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Jg. 3 (1964), H. 12, S. 1249-1255; auch in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1998, S. 149-156.
Fritz Bauer, „Diese Verbrechen einfach vergessen?“, in: Holzarbeiter-Zeitung, H. 2 (1965), S. 9.
Fritz Bauer, „Nach den Wurzeln des Bösen fragen“, in: Die Tat, Nr. 10, 7. März 1964; Wiederabdruck in Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Sonderschwerpunkt Fritz Bauer, H. 4 (2015), S. 120-125.
Fritz Bauer, Antwort auf eine Anfrage zum Thema „NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten. Versuch einer Zwischenbilanz“, in: Diskussion. Zeitschrift für Fragen der Gesellschaft und der deutsch-israelischen Beziehungen, 5. Jg. (1964), H. 14, S. 4 f.
Claudia Fröhlich, „Wider die Tabuisierung des Ungehorsams“. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Frankfurt am Main: Campus, 2006.
Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1965-1967. Allensbach, Bonn 1967, S. 165.