Widerstandsrecht und -pflicht
Widerstandsrecht und -pflicht
Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer hielt seine letzte große öffentliche Rede in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität im Juni 1968. Blinder Glaube an die vermeintliche Richtigkeit staatlichen Handelns und mangelnde Zivilcourage, das war aus seiner Sicht der Boden, in dem nationalsozialistisches Denken und Handeln Wurzeln schlagen und sich ausbreiten konnten. Bauer traf damit die reaktionären Eliten an ihrer empfindlichen Stelle und zog sich ihre niemals endende Feindschaft zu. Sie, die der Weimarer Demokratie nie etwas abgewinnen konnten, die Hitler in den Sattel geholfen hatten und nach dessen Ende bald wieder obenauf waren, sie hatten an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Thema Menschenrechte, zu denen Bauer das Widerstandsrecht rechnete, kein Interesse.
Fritz Bauer, der soziale Demokrat, störte sie beim reibungslosen Wiederaufbau, er predigte Liebe anstelle von Krieg und Gewalt. Dass er mit dem Remer-Prozess 1952 ein historisch verbrieftes Recht auf Widerstand neu vergegenwärtigt hatte, empfanden reaktionäre und konservative Kräfte als Niederlage, Vorträge über das Thema „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“ waren ihnen ein Gräuel. Genau mit diesem Thema wandte sich Generalstaatsanwalt Dr. Bauer jedoch am 21. Juni 1968 an die Öffentlichkeit, dort, wo die Geschwister Hans und Sophie Scholl mit den Flugblättern der „Weißen Rose“ zum Widerstand gegen Hitler aufgerufen hatten, im Gebäude der Münchner Universität auf Einladung der Humanistischen Union, die er mitbegründete.
Bauers Vortrag, gehalten wenige Tage vor seinem Tod, liest sich im Nachhinein wie sein Vermächtnis, wie ein einziger Appell an das Gewissen der Menschen, sich usurpierter staatlicher Gewalt nicht zu unterwerfen, sondern Mut zum Widerstand zu haben, wenn die Menschenwürde verletzt wird. Bauer nahm die Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung, die zur Aufnahme eines Rechts zum Widerstand in Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes führte, der in seinen Worten „alles andere als ein juristisches Meisterwerk“ war, zum Aufhänger seiner Ausführungen in München. (Fritz Bauer, „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, S. 286).
Ungehorsam und Widerstand
als Lehren aus der Geschichte
Den Ort des Geschehens in seine Betrachtung einbeziehend und symbolisch verdeutlichend, indem er auf die Geschwister Scholl und die „Weiße Rose“ verwies, entfaltete Bauer ein Plädoyer für Ungehorsam gegen staatliche Gewalt – ohlgemerkt, wenn die Menschenwürde verletzt wird. Seine Rede war ein Plädoyer für die Tugend des Ungehorsams, wenn die Menschenwürde verletzt wird, zugleich ein Dokument, welches sein lebenslanges Engagement zusammenfasste. Als profunder Kenner der Materie leitete er den Widerstandsgedanken historisch ab. Er betonte, dass der Begriff ‚Widerstandsrecht‘ „den Kampf gegen ein rechtswidriges Establishment“ hervorhebt, was diesen Begriff aus dem allgemeinen Notwehrbegriff heraushebt.
„Alle im Namen des Widerstandsrechts erfolgten Handlungen, auch Unterlassungen im Sinne des Ungehorsams“, damit begann Bauer seine Münchner Ausführungen, „sind der Versuch einer Kritik, einer Einflussnahme, einer Korrektur staatlichen Geschehens, das gewogen und möglicherweise zu leicht befunden wird. Maßstab ist, so wie das Widerstandsrecht überkommen ist, freilich nicht ein neues Recht, sondern immer ein altes Recht, das nach Auffassung der Widerstandskämpfer von Staats wegen gebeugt wird. Widerstandsrecht meint nicht Revolution, sondern Realisierung eines bereits gültigen, aber nicht verwirklichten Rechts.“
Typologie der Widerstandskämpfer
Bauer entwickelte eine Typologie der Widerstandskämpfer. Angefangen von Brutus, dem siegreichen Helden und ersten römischen Konsul, der sich als Dummkopf ausgegeben haben soll, um zu überleben und seinen siegreichen Kampf zu führen, über Hamlet, der den Usurpator durch das Schauspiel eines Wahnsinnigen überwinden will, jedoch die intellektuellen Skrupel nicht überwindet, die er beim Tyrannenmord empfindet und getötet wird, über den „Schwarzen Schwan“ von Martin Walser, den – so Bauer – „modernen Hamlet“, der verwirrt in einer Heilanstalt landet und Selbstmord begeht, bis zum Typ des „bewussten Märtyrers“ in Herbert Marcuses Aufsatz über „repressive Toleranz“: „Typ eines solchen Märtyrertum“, so Bauer, „waren etwa Sokrates, auch Jesus.“ (Fritz Bauer, „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, S. 290).
Das geltende deutsche Recht
Auf die aktuellen Verhältnisse übergehend, betonte Bauer mit Genugtuung, dass unser Staat, unser Recht, unser heutiges Grundgesetz „eine Pflicht zum Ungehorsam“ fordere, sowohl im Beamten- wie im Soldatengesetz. Wohlverstanden, ein Recht auf Befehlsverweigerung und Ungehorsam, „wenn ein Befehl (…) die Menschenwürde verletzt“. Auf der „Annahme einer solchen Pflicht zum Ungehorsam“ beruhten ausnahmslos sämtliche Prozesse gegen Beteiligte an nationalsozialistischen Verbrechen. Der Jurist sah darin die pädagogische Aufgabe der Prozesse, denn mit dieser Rechtsprechung, die auch der Bundesgerichtshof bejaht habe, wurde „der autoritäre Rechtspositivismus etwa Kants widerrufen“. Wobei Bauer einschränkte: „Es gibt nur eine Pflicht zum passiven Widerstand, nur eine Pflicht, das Böse zu unterlassen, nur eine Pflicht, nicht Komplize des Unrechts zu werden. Ich persönlich glaube nicht, daß man eine Pflicht für jedermann statuieren kann, aktiven Widerstand zu üben.“ (Fritz Bauer, „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, S. 290).
Was Menschsein bedeutet
Fritz Bauer wollte seiner Zuhörerschaft mit seinem Vortrag wie schon so oft vor Augen führen, „wie dünn die Haut der Zivilisation war und ist“, „was Menschsein in Wahrheit bedeuten sollte, und was wir zu lernen haben“ (Fritz Bauer, „Antinazistische Prozesse und politisches Bewusstsein“, S.176). Es ging ihm nicht in erster Linie darum, Schuldige zu verurteilen oder untaugliche Versuche anzuprangern. Er wollte die Wurzeln nationalsozialistischen Handelns bloßlegen, um die Menschen vor einem Rückfall in die Barbarei zu bewahren. Praktisch bedeutete dies die Notwendigkeit einer neuen Pädagogik der Menschlichkeit. Er forderte sie oftmals ein in der Überzeugung, dass richtiges Handeln in der Vernunft allein nicht aufgeht. Aufgabe der Pädagogik war aus seiner Sicht, ein Selbstbewusstsein zu entwickeln und zu fördern, dass keiner „Intoleranz und Aggressivität nach außen bedarf.“
Das konnte aus Bauers Sicht nur aus dem Mitgefühl mit der leidenden Kreatur erwachsen, so wie der Widerstand von der leidenden Kreatur kommt: „Es ist das Nein zum bösen Gesetz und Befehl aus dem Munde des leidenden oder mitleidenden Bruders.“ (Bauer, „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, S. 292). Der Widerstand gegen die Nazis und den nazistischen Unrechtsstaat hatte sich dessen erinnert. Dass sich das Wort Unrechtsstaat eingebürgert hatte, bedeutete nach Bauer Abkehr von der alten Gesetzhörigkeit und dem Satz: „Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl.“ Für ihn war damit Hoffnung auf Veränderung verbunden, die er in erster Linie in die jüngere Generation setzte. Seinen Vortrag schloss er mit den Worten:
„Es gibt nur ein Recht“
…das hatte Fritz Bauer bereits 1952 Braunschweiger Schüler*innen mit auf den Weg gegeben. Immer wieder besuchte er auf Einladung von engagierten Lehrer*innenn Schulen und diskutierte mit den Schüler*innen über die geschichtlichen Aufgaben. Er ließ nicht nach, wenn er nicht überzeugte und nahm Zweifel und Kritik von jungen Menschen ernst, die sich an der nazistischen Lehre entzündeten, die der damaligen Jugend von Kindheit an eingeimpft worden war. So schrieb er nach einer Diskussion mit Schüler*innen der Raabeschule, einem Gymnasium in Braunschweig, an den Klassenlehrer mit der Bitte, seinen Brief weiterzuleiten, folgendes:
11. September 1952
Liebe Kameraden der Raabeschule!
Bei der neulichen Diskussion habe ich mich besonders über die frische Kritik gefreut, die ein deutliches Zeichen des lebendigen Interesses an den Fragen unserer Zeit ist. Mit einem inneren Seufzer habe ich jedoch feststellen müssen, daß es mir nicht völlig gelungen ist, meine Widersacher beiderlei Geschlechts zu überzeugen. Ohne eine weitere Diskussion, zu der ich jederzeit sehr gerne bereit bin, abschneiden zu wollen, will ich Ihnen noch einen – selbstverständlich konstruierten – Fall zum nachdenken geben.
Stellen wir uns vor, die Sowjetunion beabsichtige am Tage X den 3. Weltkrieg mittels eines Atombombenangriffs auf Westdeutschland zu beginnen. Beispielsweise seien einige elektrisch auszulösende Atombomben in den unterirdischen Räumen der U-Bahn Berlin angebracht, so daß ganz Westberlin bei der Explosion zusammenfällt; weitere Atombomben sollen über dem Ruhrgebiet, über Braunschweig usw. abgeworfen werden. Drei Tage vor dem Tag X teilt nun ein russischer Offizier – erschüttert von dem bevorstehenden Unrecht und dem furchtbaren Unglück, das der Welt einschließlich der Sowjetunion infolge eines neuen Krieges droht, – deutschen Politikern durch irgendwelche Kanäle mit, ein Angriff stehe am Tage X bevor.
Begeht der russische Offizier Unrecht? Wenn nicht, warum soll dann Oster, der vor dem Angriff auf Dänemark, Norwegen und Holland genau dasselbe tat, Unrecht begangen haben?
Wollte man hier einen Unterschied machen, so würde das bedeuten, Recht ist, was mir oder meiner Nation nützt, Unrecht ist, was mir oder meiner Nation schadet. In allen großen Fragen des Lebens gibt es aber kein deutsches, kein amerikanisches und kein russisches Recht, sondern nur ein Recht, genau so wie es keine deutsche, amerikanische oder russische Mathematik, sondern nur eine Mathematik gibt, nur eine Wahrheit gibt.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Fritz Bauer
Quelle: Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds. Zg. 41/1968, Bd. 24/5, Bl. 942.
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Glossar
Quellen:
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds. Zg. 41/1968, Bd. 24/5, Bl. 942.
Literatur:
Fritz Bauer, „Antinazistische Prozesse und politisches Bewusstsein“, in: Hermann Huss, Andreas Schröder (Hrsg.), Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1965, S. 168-193
Fritz Bauer, „Die Widerstandsidee in Vergangenheit und Gegenwart“, in: Zeitschrift für Geopolitik, (1965), S. 289-294.
Fritz Bauer, „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, in: Vorgänge, Nr. 8-9 (1968), S. 286-292.
Fritz Bauer, „Widerstand als geschichtlicher Auftrag. Das Widerstandsrecht in unserer Geschichte“, in: Freiheit und Recht. Zentralorgan der Widerstandskämpfer und Verfolgtenverbände, Jg. 11 (1965), Nr. 10, S. 1-9.
David P. Schweikard, Nadine Mooren, Ludwig Siep (Hrsg.), Ein Recht auf Widerstand gegen den Staat? Tübingen: Mohr Siebeck, 2018.