Politischer Streik
Der politische Streik
Als bekennender Sozialdemokrat setzte sich Fritz Bauer auch für die deutschen Arbeiter*innen und deren Vertretungen, die Gewerkschaften, ein. Besonders deutlich wird dies im Zusammenhang mit einer Diskussion um die politische Einflussname durch Arbeiter*innen mit dem Mittel des Streiks.
Vom 27. Bis zum 29. Mai 1952 streikten Mitarbeiter*innen der IG Druck und Papier, die im Rahmen dieses Streiks aufgeworfenen Frage ist keine geringere als: Darf eine Gewerkschaft durch demonstrative Arbeitsniederlegungen Einfluss auf den Ablauf der gesetzgeberischen Arbeit des Parlaments nehmen?
Adenauer sieht also in der Verknüpfung von Arbeitsniederlegungen und politischen Forderungen einen Verstoß gegen das Grundgesetz, eine Auffassung die Fritz Bauer und viele andere Jurist*innen aber auch die Gewerkschaften nicht teilen. Neben Bauer äußerten sich auch Prof. Dr. Abendroth und Prof. Dr. Schnorr von Carolsfeld zum Thema und fordern “Die Berechtigung gewerkschaftlicher Demonstrationen für die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Wirtschaft […]” („Der politische STREIK“, S. 12).
Rechtlich läge das eigentliche Problem darin, dass das Grundgesetz keine Unterscheidung von sogenannten sozialen Streiks und politischen Streiks kenne. Es unterscheide lediglich, ob ein Streik zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erfolge oder nicht.
Für Bauer ist klar: “Der Begriff Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen umfaßt nicht nur das, was tariflich geregelt werden kann, sondern ist eine Sammelbezeichnung für alle arbeitsrechtlich-sozialpolitischen Interessen der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder.” („Der politische STREIK“, S. 13). Die Gewerkschaften seien, so Bauer, nicht nur verpflichtet sich gegen spezifische Personen oder Umstände zur Wehr zu setzen, sondern auch, wenn es nötig sei, dies gegen den Staat zu tun. “Die Wahrnehmung der Mitgliederinteressen gegenüber dem Staat ist ebenso geschützt wie die gegenüber dem sozialen Gegenspieler.” (ebd.)
Grund für diese Berechtigung der Gewerkschaften sei weiter, dass der Staat seine ökonomische Neutralität aufgegeben habe und mitbestimme wie viel Geld die Arbeiter*innen bekommen und was und wie viel sie sich davon kaufen können. Würde man den Gewerkschaften den Streik zur politischen Einflussnahme verbieten, würde dies nicht weniger bedeuten als die Gewerkschaften vom Ort der wichtigsten Entscheidungen, dem Parlament, fernzuhalten.
Es geht Bauer aber nicht nur um die Rolle der Gewerkschaften im Nachkriegsdeutschland sondern auch um die Auslegung von Art. 9.3 des GG, welche Adenauer hier vornimmt. Nach dem Grundgesetz sind Gewerkschaften eben auch dann zulässig, wenn der Adressat des Streiks der Staat ist, denn das Grundgesetz unterscheidet hier nicht.
Dem zugrunde liege laut Bauer eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit der argumentierenden Parteien über das Wesen des Staates. Die eine Seite halte ihn für neutral, er stehe über den an einem Konflikt beteiligten Parteien, sei die neutrale Instanz der Schlichtung dieses Konflikts und niemals identisch mit einer der Konfliktpositionen. Ein Streik gegen das Parlament sei daher unzulässig, denn es würde den Staat vom Podest des Schiedsrichters zerren. Für Bauer steht hingegen fest: “Es hat bislang noch nie einen neutralen Staat gegeben.” („Der politische STREIK“, S. 14). Diese Konstruktion sei frei von soziologischen und historischen Erkenntnissen und Fakten, nicht zu vergessen sei: “Volksvertretungen sind weitestgehend Interessenvertretungen.” (ebd.)
Bedeutender Bestandteil von modernen Demokratien seien Bauer zufolge sogenannte pressure groups wie Arbeitnehmer*innenverbände die jeweils ein bestimmtes Werkzeug haben, um ihre Interessen umzusetzen. Während dieses Werkzeug bei den Arbeitnehmer*innenverbänden der Streik ist, kann es bei der Kirche das Seelenheil der Menschen sein. Diese pressure groups wirken durch ihre Werkzeuge indirekte Gewalt nicht nur auf die eigenen Mitglieder, sondern auch auf die anderen Gruppen aus („Politischer Streik und Strafrecht“, S. 649). Solange diese indirekten Gewalten nicht überwunden seien, gehöre zum richtigen Verständnis von Art. 3.1 GG (“Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.”), dass Gleichheit auch mit Gleichgewichtung des Einzelnen einher gehe und ein Gleichgewicht der Kräfte (pressure groups) im Staat herrschen müsse, welches durch die jeweiligen Werkzeuge und deren Nutzung sichergestellt sein muss.
Auslegungen und Akteure, die den Gewerkschaften den politischen Streik absprechen wollen, vergessen zudem, dass reale Demokratien aus lebendigen Menschen bestehen und nicht aus interessenfreien, kristallklaren Intellekten die ausschließlich dem rationalen Gemeinwohl dienen. Diese Wahrnehmung von Demokratie führe, so Bauer, zu einer politischen Verdrossenheit, da die Menschen kaum noch mitbestimmen dürften und sich letztlich in “[…] Wolkenkuckucksheime mit autoritärem Einschlag […]” flüchteten („Der politische STREIK“, S. 15).
Bezüglich des politischen Streiks bilanziert Bauer: “Das in einem Tarifvertrag begründete Kampfverbot, die sogenannte Friedenspflicht gilt nicht für Streiks um Gegenstände, die nicht tariflich geregelt sind oder deren tarifliche Regelung gar nicht in Betracht kommt, also bei politischen Streiks. Die Arbeiter selbst sind, was für den politischen Streik allein von Belang ist, auch weder gegenüber der gesetzgebenden noch der vollziehenden Gewalt zum Arbeiten verpflichtet.” („Der Politische Streik und das Strafrecht“).
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Bauer und die Grundrechte
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Glossar
„Der Politische Streik und das Strafrecht“, in: Zeitung der IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland, Jg. 5, Nr. 24, 25.11.1953.
„Der politische STREIK“, in Gewerkschaftler, Jg. 1, Nr. 5, 1953.
„Der politische Streik“, in: Geist und Tat. Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur, Jg. 8 (1953), H. 9, S. 263-267.
„Politischer Streik und Strafrecht“, in: Juristenzeitung, Jg. 8 (1953), H. 21, S. 649-653.
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_9.html
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html