Ulm 1958 – Der Einsatzgruppen-Prozess
Vorgeschichte
Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess vom Sommer 1958 war in verschiedener Hinsicht von Bedeutung:
Fast neun Jahre bestand die Bundesrepublik Deutschland, ehe sich – nach einem ersten Ansatz vor dem Landgericht Würzburg 1950 – ein deutsches Gericht ausdrücklich mit dem Verbrechenskomplex der SS-Einsatzgruppen und somit den Massenmorden während des NS-Regimes befasste. Zuvor waren einzelne Straftäter wie der SS-Obergruppenführer Otto Ohlendorf, der auch vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg ausgesagt hatte, 1948 in einem eigens gegen diese Verbrechergruppe angesetzten Verfahren vor einem amerikanischen Militärgericht verurteilt worden (Nürnberger Nachfolgeprozesse, Fall 9: „Vereinigte Staaten gegen Otto Ohlendorf u. a.).
Die Justizbehörden der Bundesrepublik Deutschland – personell weitgehend identisch mit denen des „Dritten Reiches“ – sahen sich als nicht zuständig für die im Ausland begangenen Verbrechen an und gingen zu Beginn der 1950er Jahre von einer bevorstehenden Amnestie aus.
Zum Ulmer Prozess führte nur ein „Zufall“, der bezeichnend war:
Ein 1945 untergetauchter SS-Verbrecher, Bernhard Fischer-Schweder, wandte sich mit einem Leserbrief an eine Zeitung und beklagte, dass die ihm zustehende Wiedereinstellung in den Staatsdienst – er war Polizeichef von Memel gewesen – noch immer auf sich warten lasse. Diese Zuschrift bekamen zufällig zwei Kraftfahrer des ehemaligen SS-Oberführers und Polizeidirektors (1941), der die Einsatzgruppe A der hinter der nördlichen Ostfront operierenden SS-Aufgebote unterstützt hatte und an Erschießungen beteiligt war, in die Hände. Durch ihre Anzeige kam das Verfahren zustande, das zehn NS-Verbrecher vor Gericht brachte.
Erstmals wurde hier die neue Kategorie des Massenverbrechen offenbar, die in der Bundesrepublik bislang weder genügend wahrgenommen geschweige denn vor Gericht gebracht geworden war. Dabei hatte diese Einsatzgruppen den eigentlichen Weltanschauungskrieg geführt und die Ausrottung der „Fremdvölkischen im Osten“ so radikal betrieben, dass ihre Vernichtungsbilanz derjenigen der Tötungszentren Auschwitz, Treblinka, Majdanek u. a. mindestens gleichkommt. Obwohl nur 3.000 Mann stark (darunter rund 30 promovierte Akademiker als Führer) hatten die vier Einsatzgruppen der SS – mit Wissen der Heeresgruppen-Befehlshaber und ihrer Stäbe und indem behauptet wurde, man „befriede“ das Aufmarschgebiet hinter der Front und sichere die kämpfende Truppe vor Partisanen und Sabotage – im besetzten Hinterland der Sowjetunion in unvorstellbarer Weise gemordet. Die geschätzte Zahl der Opfer liegt nahe bei 1,5 Millionen. Eine spezielle Meldezentrale im Reichssicherheitshauptamt in Berlin sammelte die täglichen geheimen Einsatzberichte über Massenexekutionen sowie Pogrome, zu denen die SS-Kommandos auch die ansässige Bevölkerung aufstachelten.
In Ulm standen zehn Angehörige der SS-Einsatzgruppen vor Gericht (Angehörige der Einsatzgruppe A unter dem SS-Brigadeführer Dr. Walter Stahlecker, die etwa 1000 Mann stark von Memel aus durchs Baltikum gegen Leningrad vorrückten). Sie hatten etwa 5.500 jüdische Männer, Frauen und Kinder gleich welchen Alters kaltblütig ermordet. Die Vorbereitung des Verfahrens dauerte drei Jahre.
Das Urteil
Im Urteil des Ulmer Einsatzgruppen-Prozesses wurde die fragwürdige Gehilfenrechtsprechung begründet. Sie qualifizierte die eigenhändig Tötenden und die Befehlsgeber nicht als Täter, sondern als Gehilfen angeblich ohne eigenes Interesse am Taterfolg. Alle zehn Angeklagten wurden lediglich wegen „gemeinschaftlicher Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ und nicht als Täter oder Mittäter verurteilt. In seinem sarkastischen Kommentar zu dieser Sachlage sprach Jürgen Baumann von der Abschiebung der Verantwortung auf einen totalitären Staatsapparat, was zur Folge habe, dass nur Hitler Täter der Einsatzgruppenmorde sei: „Ein Täter und 60 Millionen Gehilfen.“
Gleichwohl muss der Ulmer Prozess zumindest als ein kleiner Durchbruch bezeichnet werden. Selbst wenn die Gesamtbilanz der justiziellen „Bewältigung der Vergangenheit“ weniger eindrucksvoll ist.
Folge des Verfahrensumfangs war, dass noch vor Ende des Jahres 1958 in Ludwigsburg die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ geschaffen und ihr die Vorermittlung für die entsprechenden Strafverfahren übertragen wurde. Laut einem Bericht des früheren SZ-Redakteurs Knud von Harbou wurde auf Fritz Bauers Initiative noch 1958 ein Bestand von 100.000 Fahndungsakten an die Zentrale Stelle und nicht an das Bundesarchiv geschickt. Erster Leiter der Zentralen Stelle wurde Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, der im Ulmer Prozess die Anklage erhob und selbst eine NS-Vergangenheit hatte. Gegen die Einsatzgruppen kam es noch zu 50 teilweise parallellaufenden Prozessen, mit 153 Angeklagten. Die Arbeit der Zentralen Stelle steht aber bis in jüngste Zeit in der Kritik, da sie mit dazu beigetragen hat, dass die niedrigen SS-Chargen nicht vor Gericht gestellt wurden.
ENTDECKE WEITERE THEMENRÄUME
Fritz Bauers Büro 1956
Strafrechtsform
Glossar
Literatur:
Klaus Bästlein, „Zeitgeist und Justiz. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen im deutsch-deutschen Vergleich und im historischen Verlauf“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 64. Jg. (2016), H. 1, S. 5-28.
Jürgen Baumann, „Beihilfe bei eigenständiger voller Tatbestandserfüllung“, in: Neue Juristische Wochenschrift, 16. Jg. (1963), H. 13, S. 561-565.
Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Tübingen: Mohr, 2002.
Knud von Harbou, „Schmerzliches Vermächtnis“, in: Süddeutsche Zeitung, 11. Oktober 2021, S. 15.
Kerstin Hofmann, „Ein Versuch nur – immerhin ein Versuch“. Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg unter der Leitung von Erwin Schüle und Adalbert Rückerl (1958-1984). Berlin: Metropol, 2018.
Peter Klein (Hrsg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Berlin: Edition Hentrich, Berlin 1997 (Band 6 der Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.)
Sabrina Müller, Timo John, Die Mörder sind unter uns: Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg und Stadthaus Ulm., Stuttgart 2008.
Ralf Ogorreck und Volker Rieß, „Fall 9: Der Einsatzgruppenprozess (gegen Ohlendorf und andere)“, in: Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär. Frankfurt am Main: Fischer, 1999, S. 164-175.
LG Ulm, 29. August 1958. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966. Bd. XV, bearbeitet von Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs, C. F. Rüter. Amsterdam: University Press, 1976, Nr. 465, S. 1-274, Verfahrensgegenstand: Massen- und Einzelerschiessungen mehrerer tausend Juden und Kommunisten (Männer, Frauen und Kinder) auf einem ca. 25 km breiten Streifen im Memelland, unmittelbar jenseits der damaligen ostpreussisch-litauischen Grenze in den ersten drei Monaten nach dem deutschen Truppeneinmarsch in das Baltikum.
Film
- Der Ulmer Prozess. SS-Einsatzgruppen vor Gericht. Dokumentation, 2006, 45 Min., Buch und Regie: Eduard Erne, Produktion: Südwestrundfunk (SWR), Erstsendung 4. Mai 2006.