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Sexualstrafrecht

Beim Thema Sexualität und Strafrechtsreform waren die Diskussionen in den 1950er und 60er Jahren besonders heftig. In Form illustrierter Zeitschriften boomte die Erotik wirtschaftlich, während gleichzeitig eine rigide katholische Sexualmoral die deutsche Kulturnation vor fortschreitender Erotisierung schützen wollte. Hier prallten die unterschiedlichen Weltanschauungen und Gesellschaftsbilder, vor allem Fragen an das eigene Demokratieverständnis, besonders stark aufeinander. Was als Sittlichkeits- oder Sexualdelikt unter Strafe zu stellen sei, welche gesellschaftliche oder religiöse Grundhaltung jeweils dahinterstand, wurde heftig debattiert. Das Stichwort lieferte meist die Frage: „Was ist unzüchtig?“ Als Vorwurf traf sie sogenannte obszöne Literatur, auch Theater-, Film und Opernaufführungen.

An erster Stelle der Kriminalisierung stand allerdings die Homosexualität, die in Deutschland in Form des § 175 Strafgesetzbuch, der gleichgeschlechtliche Handlungen von Männern unter Strafe stellte, verboten war. In solcher Schärfe war dies damals nur noch in vier weiteren westeuropäischen (nichtkommunistischen) Staaten zu finden, wie Fritz Bauer feststellte. (Fritz Bauer, „Sexualstrafrecht heute (1963)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim PerelsWas bedeutet das? und Irmtrud WojakWas bedeutet das?. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 297-313.)

Für ihn lauteten die beiden Grundfragen hinter der seit Beginn der 1950er Jahre diskutierten Strafrechtsreform:

1.) Wie ist das Menschenbild des Grundgesetzes?

2.) Welche Normen gestattet eine pluralistische Gesellschaft?

Von den Mitgliedern der Strafrechtskommission, so kritisierte der politische Jurist den 1966 vorliegenden Entwurf der Bundesregierung, wurden diese Fragen weiterhin im Sinne einer christlichen Moraltheologie beantwortet. Die Kommissionsmitglieder hätten sich der politischen Struktur der Bundesrepublik und der sie tragenden Partei (der Christlich Demokratischen Union/ CDU), mithin der katholischen Moraltheologie, angepasst:

Robert Mulka Bild von Fritz Bauer
Das alte Erbübel hierzulande – ein wirklicher oder vermeintlicher Regierungskonformismus – meldete sich. Der eine hielt die Mimikry möglicherweise für taktisch klug, da Entwürfe nun einmal von der Parlamentsmehrheit angenommen werden müssen, der andere mochte in betont christlicher Haltung ein brauchbares Alibi für seine frühere Tätigkeit im Reichsjustizministerium oder anderswo sehen.
Fritz Bauer, „Sexualität, Sitte und ein neues Recht“, in: DIE ZEIT, 12. Februar 1966

„Es wird zu viel kriminalisiert“

Aus der Sicht des Sozialdemokraten Bauer wurde von der Reformkommission zu viel kriminalisiert. Auf Basis seiner säkularen Rechtsauffassung betonte er die soziale Frage und den pluralistischen Staat, der nicht in das Privatleben der Bürger*innen eingreifen soll. Das Sexualstrafrecht sollte, ebenso wie das StrafrechtWas bedeutet das? überhaupt, auf die Veränderbarkeit der Umstände setzen und Normen (Gesetze) sich auf das „ethische Minimum“ beschränken.

Fritz Bauer studierte die jüngsten Gesetzgebungen und Erfahrungen anderer Länder, insbesondere Dänemarks, Schwedens, Japans und der USA, auch Alfred C. Kinseys Studien über das sexuelle Verhalten von Mann und Frau, die 1948 und 1953 in den USA erschienen waren und als Auslöser der Sexuellen Revolution gelten.

Aufgrund dieser Forschungen setzte Bauer sich für die Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexualität unter Erwachsenen ein. Er forderte vom Strafrechtsentwurf eine Streichung der Bestrafung des Ehebruchs und eine Entkriminalisierung der Empfängnisverhütung. Bei allen verbleibenden Sexualdelikten sollte „die Verfolgung der Tat von der Einwilligung des Verletzten abhängig gemacht werden“. (Fritz Bauer, „Sexualität, Sitte und ein neues Recht“, in: DIE ZEIT, 12. Februar 1966).

„Schmutz, Schund und Kriminalität“

Fritz Bauer war ein Schubladendenken im Sinne einer Gesellschaft aus Täter*innen und Zuschauer*innen auf der einen und Opfern auf der anderen Seite fremd. Die Reform des Sexualstrafrechts betrachtete er als eine Aufgabe, bei der es um die noch zu verwirklichende Aneignung der Grund- und Freiheitsrechte speziell durch die Rechtsprechung ging. Zugleich war dies für ihn eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch Richter*innensprüche sind schließlich bloß exemplarisch für die diversen Einstellungen in einer Gesellschaft und da war die NS-Vergangenheit eben noch sehr lebendig.

In zahlreichen Artikeln verknüpfte Bauer daher die Reformziele für das (Sexual-)StrafrechtWas bedeutet das? mit Artikel 5 der Grundrechte, der in Absatz 1 die Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die Pressefreiheit garantiert und im Absatz 3 erklärt:

Deutschland Flagge Grundgesetz Politischer Streit
Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 5

Als Abwehrrechte gegenüber Eingriffen des Staates in die Privatsphäre von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes geschaffen, trat Bauer vehement für den Schutz der Kunst-, Meinungs- und Informationsfreiheit sowie die Medienfreiheit von Bürger*innen ein. Was jugendgefährdende Schriften und die so genannte „Schmutz- und Schundliteratur“ betrifft, vertrat er eine freiheitliche Rechtsauffassung. Die Frage sei offen, betonte der Jurist aufgrund der empirischen Studien, ob Schmutz und Schund mehr Verbrechen hervorrufen als sie zugleich verhüten. (Fritz Bauer, „Die modernen Aufgaben einer Strafrechtsreform“, in: Ders., Kleine Schriften (1921-1961). Hrsg. v. Lema Foljanty und David Jobst. Frankfurt am Main: Campus, 2018, S. 380-399, hier S. 391.)

Fritz Bauer gehörte zur Minderheit derjenigen Juristen, die der traditionell ordnungspolitischen Rechtsauffassung der Mehrheitsgesellschaft offen entgegentrat und widersprach. Zeit seines Lebens liebte der Jurist die Kunst und Literatur, er ging gern ins Theater, im Frankfurter Schauspielhaus war er bei den Premieren zu Gast. Seine Vorliebe galt der modernen Kunst, was die Einrichtung in seinem Büro eindrucksvoll dokumentiert. Engagiert setzte er sich für die Freiheit der Kunst ein, sei es im Film – wie bei Ingmar Bergmans Film „Das Schweigen“, in der Literatur oder auf der Bühne.

Fritz Bauer, der Mozart liebte, scheute 1962 keine Mühe, die Städtischen Bühnen Augsburg zu unterstützen, gegen deren Intendant, Regisseur und Bühnenbildner ein Verfahren wegen einer angeblich obszönen Aufführung von Figaros HochzeitWas bedeutet das? eingeleitet worden war. Die ganze Angelegenheit einschließlich des Gutachtens von Bauer wurde in der Publikation Der obszöne Figaro dokumentiert.

©pechschwarzmedia

Ende 1967 plante Bauer, die Protokolle des Skandalprozesses um den Schriftsteller Oscar WildeWas bedeutet das? zu bearbeiten, der wegen seiner Homosexualität und künstlerischen Auffassung, die einen Affront gegen die viktorianische Gesellschaft darstellten, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Bauer stand deswegen im Kontakt mit Hela Gerber-Külüs, der Leiterin des Berliner Theaters und Hebbel-Theaters, das nach dem Krieg zu einer bekannten Volksbühne geworden war. In Verbindung mit den Briefen und sonstigen Arbeiten Oscar Wildes wollte er die Prozess-Protokolle dramatisch zu einem Theaterstück gestalten. Er begann Material zu sammeln, korrespondierte über seine Pläne mit dem Schriftsteller Rolf ItaliaanderWas bedeutet das? (1913-1991). Der Vertrag mit dem Hebbel-Theater besagte, dass Bauer zunächst ein Szenenkonzept entwerfen sollte, der endgültige Ablieferungstermin war auf den 1. Juli 1968 festgelegt und die Uraufführung sollte anlässlich der Berliner Festwochen stattfinden – doch dazu kam es nicht mehr.

Oscar Wilde, von Napoleon Sarony © gemeinfrei

Ausformung der Grundrechte als Freiheitsrechte

Jenseits von einem religiösen Naturrechtsverständnis und Rechtspositivismus kam Bauers Rechtsauffassung aus einer sozialistischen Tradition. Stets betonte er den progressiven Charakter des Rechts, das zur Gemeinschaftsbildung beiträgt, für jede*n offen ist und verbindlich. Was die Wirklichkeit der restaurativen Ära der Regierungszeit Konrad Adenauers betrifft, befand Bauer sich damit klar in der politischen Opposition. Die institutionelle Rechtsauffassung von den drei Säulen Staat, Kirche und Familie bei Annahme von übergesetzlichen „objektiven Werten“ (Wertsystem) stand seinem demokratischen und sozialen Denken diametral entgegen.

(Siehe dazu auch: Ilse StaffWas bedeutet das?, „Das Lüth-Urteil“, in: Thomas Henne und Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)theoretischer Sicht. Die Konflikte um Veit HarlanWas bedeutet das? und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2005, S. 314-326.)

Fakten-Check

Bist du bereit, dein Wissen über Fritz Bauer zu testen?

Fritz Bauer war homosexuell.

Richtig!

Diese Behauptung ist tendenziös und frei erfunden. Nicht einmal in den 1950er/ 60er Jahren, in einer homosexuellenfeindlicheren Gesellschaft als heute, wurde die Behauptung gegen Fritz Bauer in Umlauf gebracht, um ihn aufgrund des § 175 Strafgesetzbuch, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte und erst 1994 ersatzlos aufgehoben wurde, ins Gefängnis zu bringen. Tatsache ist, dass ein bekannter dänischer Nationalsozialist den Flüchtling Fritz Bauer bei der dänischen Fremdenpolizei wegen homosexueller Kontakte anzeigte. Der dänische Nationalsozialist namens Max Pelving arbeitete auch für die Gestapo, die hinter Bauer her war. Dies war eine lebensgefährliche Situation, in der sich der Emigrant gezwungen sah, seine angeblichen sexuellen Kontakte „zuzugeben“, um der Auslieferung an die Gestapo zu entgehen. Max Pelving wurde 1939 in Dänemark zu einer Haftstrafe verurteilt, nahm aber seine Tätigkeit nach der Besetzung Dänemarks durch die Nationalsozialisten wieder auf, was Fritz Bauer erneut in Gefahr brachte. Fritz Bauer tauchte daraufhin zwei jahrelang in Dänemark unter.

Die Behauptung, Bauer sei homosexuell gewesen, reißt seine Geschichte aus dem historischen Kontext. Sie trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei, indem sie das von einem Rechtsextremisten verbreitete Gerücht über Bauers angebliche homosexuellen Kontakte, was für ihn lebensgefährliche Verfolgung bedeutete, als Wahrheit weiterverbreitet.

Siehe hierzu die jüngsten Forschungsergebnisse der dänischen Historikerin Sine Maria Vinther in Politiken Historie, 14. Oktober 2021, URL: https://politikenhistorie.dk/art8414658/Ny-viden-viser-at-han-%E2%80%93-og-hans-sexliv-%E2%80%93-ogs%C3%A5-i-Danmark-blev-overv%C3%A5get (zuletzt abgerufen am 19. November 2022); erwähnt in der Frankfurter Rundschau, 16. Juli 2022, URL: https://www.fr.de/politik/fritz-bauer-kopenhagen-daenemark-nationalsozialismus-flucht-91670180.html (zuletzt abgerufen am 19. November 2022). Transparenzhinweis: Die Verfolgung Fritz Bauers aufgrund angeblicher homosexueller Kontakte erwähnte bereits die Biografie von Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. Eschenlohe: Buxus Edition 2019, Orig. C.H. Beck 2009.

Falsch!

Diese Behauptung ist tendenziös und frei erfunden. Nicht einmal in den 1950er/ 60er Jahren, in einer homosexuellenfeindlicheren Gesellschaft als heute, wurde die Behauptung gegen Fritz Bauer in Umlauf gebracht, um ihn aufgrund des § 175 Strafgesetzbuch, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte und erst 1994 ersatzlos aufgehoben wurde, ins Gefängnis zu bringen. Tatsache ist, dass ein bekannter dänischer Nationalsozialist den Flüchtling Fritz Bauer bei der dänischen Fremdenpolizei wegen homosexueller Kontakte anzeigte. Der dänische Nationalsozialist namens Max Pelving arbeitete auch für die Gestapo, die hinter Bauer her war. Dies war eine lebensgefährliche Situation, in der sich der Emigrant gezwungen sah, seine angeblichen sexuellen Kontakte „zuzugeben“, um der Auslieferung an die Gestapo zu entgehen. Max Pelving wurde 1939 in Dänemark zu einer Haftstrafe verurteilt, nahm aber seine Tätigkeit nach der Besetzung Dänemarks durch die Nationalsozialisten wieder auf, was Fritz Bauer erneut in Gefahr brachte. Fritz Bauer tauchte daraufhin zwei jahrelang in Dänemark unter.

Die Behauptung, Bauer sei homosexuell gewesen, reißt seine Geschichte aus dem historischen Kontext. Sie trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei, indem sie das von einem Rechtsextremisten verbreitete Gerücht über Bauers angebliche homosexuellen Kontakte, was für ihn lebensgefährliche Verfolgung bedeutete, als Wahrheit weiterverbreitet.

Siehe hierzu die jüngsten Forschungsergebnisse der dänischen Historikerin Sine Maria Vinther in Politiken Historie, 14. Oktober 2021, URL: https://politikenhistorie.dk/art8414658/Ny-viden-viser-at-han-%E2%80%93-og-hans-sexliv-%E2%80%93-ogs%C3%A5-i-Danmark-blev-overv%C3%A5get (zuletzt abgerufen am 19. November 2022); erwähnt in der Frankfurter Rundschau, 16. Juli 2022, URL: https://www.fr.de/politik/fritz-bauer-kopenhagen-daenemark-nationalsozialismus-flucht-91670180.html (zuletzt abgerufen am 19. November 2022). Transparenzhinweis: Die Verfolgung Fritz Bauers aufgrund angeblicher homosexueller Kontakte erwähnte bereits die Biografie von Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. Eschenlohe: Buxus Edition 2019, Orig. C.H. Beck 2009.

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Glossar

Literaturhinweise:

Brief von F. Bauer an H. Gerber-Külüs, 5. Oktober 1967, Fritz Bauer Archiv des Fritz Bauer Forums, Bochum.

Brief von R. Italiaander an F. Bauer, 10. April 1968, Fritz Bauer Archiv des Fritz Bauer Forums, Bochum.

Fritz Bauer, „Sexualstrafrecht heute (1963)“, in: Ders., Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main: Campus, 1996, S. 297-313.

Fritz Bauer, „Sexualität, Sitte und ein neues Recht“, in: DIE ZEIT, 12. Februar 1966).

Fritz Bauer, „Die modernen Aufgaben einer Strafrechtsreform“, in: Ders., Kleine Schriften (1921-1961). Hrsg. v. Lema Foljanty und David Jobst. Frankfurt am Main: Campus, 2018, S. 380-399, hier S. 391.

Fritz Bauer, „Was ist ‚unzüchtig‘?“, in: Vorgänge, Nr. 4/5 (1962), S. 8-11.

Fritz Bauer, „Kunstzensur (Aus dem Nachlass)“, in: Streit-Zeit-Schrift 13, Nr. VII/1 (1969), S. 42-47.

„Darf Kunst alles? Generalstaatsanwalt Fritz Bauer: Das Grundgesetzt sagt: ja“, Rheinischer Merkur, November 27, 1964.

Der obszöne Figaro: Eine Dokumentation in Wort und Bild. Hrsg. von Stadtrat Arthur Vierbacher. Hannover, 2003.

Ilse Staff, „Das Lüth-Urteil“, in: Thomas Henne und Arne Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)theoretischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag, 2005, S. 314-326.

Sybille Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik. München: Siedler, 2011.

Vertrag zwischen H. Gerber-Külüs und F. Bauer, Ascona 14. September 967, unterzeichnet von H. Gerber-Külüs; Telegramm vom 14. September 1967, Ascona, Fritz Bauer Archiv des Fritz Bauer Forums, Bochum.

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