Remer Prozess
Rehabilitierung des Rechts auf Widerstand
Vorgeschichte
Im April 1949 wurde Dr. Fritz Bauer zum Landgerichtsdirektor in Braunschweig berufen und am 1. August 1950 von der niedersächsischen Regierung zum Generalstaatsanwalt ernannt. Jetzt war er in der Position, den Neuanfang mitzugestalten: Als Ankläger in dem Strafverfahren gegen Otto Ernst Remer, dem „bedeutendste(n) Prozess mit politischem Hintergrund seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und vor dem Frankfurter Auschwitz-Prozess“ (Rudolf Wassermann).
Der Generalstaatsanwalt ging damit gegen Otto Ernst Remer vor, der laut Anklageschrift „in Braunschweig am 3. Mai 1951 in Beziehung auf (…) Bundesminister des Inneren Dr. Robert Lehr (…) eine nicht erweislich wahre, ehrenrührige Tatsache behauptet“ hat, um ihn dadurch „verächtlich zu machen und des Vertrauens unwürdig erscheinen zu lassen, dessen er für sein öffentliches Wirken bedarf“.
Remer habe als Redner der von ihm mitbegründeten Sozialistischen Reichspartei (SRP) in einer öffentlichen Wahlversammlung zum 20. Juli 1944 erklärt: „Es wird die Zeit kommen, in der man schamhaft verschweigt, dass man zum 20. Juli gehört hat. Wenn man schon bereit ist, Hochverrat zu begehen, dann bleibt die Frage offen, ob nicht in sehr vielen Fällen dieser Hochverrat gleich Landesverrat ist. Diese Verschwörer sind zum Teil in starkem Maße Landesverräter gewesen, die vom Auslande bezahlt wurden“.
Otto Ernst Remer (1912-1997)
Remer, der 1944 dazu beigetragen hatte, dass der Revolutionsversuch des 20. Juli scheiterte, reiste damals als Vorsitzender der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) durch die Lande, um Anhänger zu gewinnen. Remer war 1944 Kommandeur des Berliner Wachbataillons „Großdeutschland“, das auf den „Walküre“-Befehl der Verschwörer zwar das Regierungsviertel ordnungsgemäß besetzte, aber bald Bedenken bekam. Er selbst marschierte zum Berliner Gauleiter, dem Propagandaminister Dr. Goebbels, den er eigentlich festnehmen sollte, um genaueren Aufschluss über die Vorgänge zu bekommen.
Goebbels vermittelte Remer ein Telefongespräch mit Hitler, aus dem eindeutig hervorging, dass Hitler das Attentat des Claus Schenk Graf von Stauffenberg überlebt hatte. Hitler gab Remer – den er telefonisch zum Oberst beförderte – den Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Remer hatte demnach doppelten Verrat begangen, zunächst hatte er abgewartet, wie das Attentat ausging, dann war er umgeschwenkt und zu Beginn der 1950er Jahre reiste er wiederum durch die Lande, und diffamierte die Attentäter als Hoch- und Landesverräter.
Als Remer am 20. Juli 1944 in der Berliner Bendlerstraße aufmarschierte, wo das Oberkommando des Ersatzheeres seinen Sitz hatte und von wo aus Stauffenberg mit den Mitverschwörern das NS-Regime beseitigen wollte, war das Unternehmen „Walküre“ bereits gescheitert. Die Aufständischen waren bereits von dem umgeschwenkten Generalobersten Fromm verhaftet worden. Die Tatsache, dass die von Stauffenberg gelegte Bombe im Führerhauptquartier Hitler verfehlt hatte, vernichtete die Grundvoraussetzung für das Gelingen des geplanten Umsturzes.
Anklage 17. November 1951
1949, nach Gründung der BRD, sowie in den folgenden Jahren ging kein deutsches Gericht gegen Otto Ernst Remers Schmähungen des 20. Juli 1944 vor. Hätte nicht Bundesinnenminister Lehr Strafantrag gegen den ehemaligen Major gestellt, hätte Remer wahrscheinlich noch lange seine Nazi-Sprüche verbreiten können.
Der am Braunschweiger Landgericht tätige Oberstaatsanwalt Dr. Erich Günther Topf fand nichts Falsches an Remers Äußerungen, was schließlich dazu führte, dass Generalstaatsanwalt Dr. Bauer den Fall an sich zog. Er setzte durch, dass Remer nach §186 Strafgesetzbuch (StGB) wegen übler Nachrede unter Anklage gestellt wurde. Mit einer Anklage Remers aufgrund dieses Paragrafen forderte Bauer den „Wahrheitsbeweis“ heraus.
Die Prozessgutachter
Eine zentrale Rolle im Prozess spielte die Frage des Soldateneids: Des Rechts zum Tyrannensturz im Falle der Notwehr, notfalls durch Tötung. Fritz Bauer, der den Umsturzversuch des 20. Juli 1944 als Versuch zur Wiederherstellung der Rechtsordnung betrachtete, lud Sachverständige ein, aus katholischer, protestantischer und historischer Sicht zu den damit verbundenen Fragen Stellung zu nehmen. Darunter waren:
Generalstaatsanwalt Bauers Antwort
an Professor Hans Rothfels
Auszüge aus Briefen der Gutachter
an Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer
Fritz Bauers Plädoyer: „Ein Unrechtsstaat“
Am 4. Februar 1952 erging der Eröffnungsbeschluss für das Hauptverfahren vor dem Landgericht in Braunschweig, am 7. März 1952 begann der Prozess. Zitate aus dem Plädoyer des Anklägers Generalstaatsanwalt Dr. Bauer belegen, worum es ihm in dem Prozess ging:
Eine solche volle Anerkennung der Tat des 20. Juli war damals noch selten. Laut Meinungsumfragen war ein Großteil der Bundesbürger skeptisch bis feindselig gegenüber den Verschwörern eingestellt. Fritz Bauer war der erste Anwalt des 20. Juli 1944. Sein Plädoyer ist mit Friedrich Schillers „Eine Grenze hat Tyrannenmacht“ überschrieben. Darin heißt es:
„Ich glaube, es gibt niemandem in diesem Saal, der den Mut hätte zu sagen, einer der Widerstandskämpfer hätte nicht mit der heiligen Absicht gehandelt, seinem deutschen Vaterlande zu dienen (…). Am 20. Juli war der Krieg endgültig verloren. Am 20. Juli war das deutsche Volk total verraten, verraten von seiner Regierung, und ein total verratenes Volk kann nicht mehr Gegenstand eines Landesverrats sein. Genauso wenig, wie man einen toten Mann durch einen Dolchstoß töten kann. (…) War nicht jeder in Deutschland, der die Ungerechtigkeit des Krieges erkannte, berechtigt, Widerstand zu leisten und einen Unrechtskrieg zu verhüten? In diesem Fall gilt nämlich, was Hugo Grotius, der Vater unseres Völkerrechts geschrieben hat:
‚Wenn das Motiv des Krieges ungerecht ist, so sind auch alle Handlungen, die daraus folgen, ungerecht, und alle, die mit Wissen und Willen an solchen Handlungen teilnehmen, gehören zur Schar derer, die nicht ohne Buße und Besserung ins Himmelreich eingehen.’ (…)
Ich gehe zum zweiten Punkt über und erkläre, der nationalsozialistische Staat war seinem Inhalt nach ein Unrechtsstaat. (…) Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr gemäß § 53 StGB. Jedermann war berechtigt, den bedrohten Juden oder den bedrohten Intelligenzschichten des Auslandes Nothilfe zu gewähren. (…)
Das Schönste über das Widerstandsrecht von Volk und Mensch hat Schiller im Tell gesagt:
Fritz Bauer proklamierte ein allgemeines Widerstandsrecht, ja sogar die Pflicht zum Widerstand. Er beschränkte das Widerstandsrecht nicht nur – wie später der Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff – auf diejenigen, welche Aussicht auf Gelingen beanspruchen können. Bauer forderte „Das „Widerstandsrecht des kleinen Mannes“:
Resonanz auf Fritz Bauers Plädoyer
Urteil 15. März 1952
3 Monate Gefängnisstrafe.
Der Verurteilte entzog sich dem Strafvollzug durch Flucht ins Ausland.
Historischer Kontext –
Wiederbewaffnung der BRD
Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer brachte es nicht zustande, das Gedächtnis des 20. Juli 1944 in der Gesellschaft zu verankern. Grund dafür war, dass der Bundeskanzler spätestens seit Herbst 1951 die Wiederaufrüstung und Wiederbewaffnung betrieb. Der verschämt „Wehrbeitrag“ genannte Vorgang, den die Westalliierten im Zuge des Kalten Krieges bereits 1949 zu fordern begannen, wurde vom sogenannten „Amt Blank“ betrieben und 1952 von der Mehrheit des Bundestages beschlossen. Ungeachtet heftiger Gegenwehr der Opposition, die – fast gleichzeitig mit dem Remer-Prozess – das Bundesverfassungsgericht in Anspruch nehmen wollte und von diesem verlangte, es möge die Aufstellung einer Bundeswehr als verfassungswidrig verurteilen.
Bonn wollte sich nicht auf den Schuldspruch gegen Remer und auf Fritz Bauers Würdigung des 20. Juli festlegen lassen. Dabei wusste man über die rechtsextremen Umtriebe genau Bescheid. Schließlich wurde die Remer-Partei bald darauf als verfassungswidrig verboten. Ein Remer-Prozess passte jedoch nicht in Adenauers Konzept. Im Kabinett legte man Innenminister Robert Lehr nahe, auf die Klage gegen den rechtsextremen Major zu verzichten. Da Lehr nicht entsprechend reagierte, war sein Kabinett-Schicksal besiegelt.
Als Adenauer im Jahr darauf erneut zum Kanzler gewählt wurde, war von Robert Lehr bei der Regierungsbildung nicht mehr die Rede, Bundesinnenminister wurde Gerhard Schröder. So wie Lehr 1950 Gustav Heinemann ersetzt hatte, als dieser Adenauer – Anstoß war schon damals Adenauers spürbare Tendenz, die Wiederbewaffnung zu betreiben – zu widersprechen wagte.
Beides gleichzeitig war eben nicht gut möglich. Wenn man die Remilitarisierung in Angriff nahm, musste man mit den alten Soldaten rechnen. Mit jenen Offizieren, die in der Wehrmacht gekämpft hatten. Unter den Ersten, die das „Amt Blank“ bald darauf neuerdings zu den Waffen rief, waren die Generäle Heusinger und Speidel – der Erstgenannte ein Berufssoldat, der das Attentat des 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze überlebt hatte.
Fritz Bauer war sich der veränderten Einstellung zur deutschen Militarisierung bewusst. In diesem Moment ein Strafverfahren gegen den damaligen Major Remer und die Beteiligten des Umsturzversuches als Vorbilder des Widerstands anzuerkennen? Ein Prozess, der zugleich diejenigen, die solchen Widerstand nicht geleistet hatten, zu Mitläufer*innen, Nazi-Soldat*innen und also Versager*innen stempeln musste?
Nachdem der Bundestag die Wiederbewaffnung beschlossen hatte, als Westdeutschland durch seine bereitwillige Beteiligung am Kalten Krieg, durch Einordnung in das westliche „Verteidigungsbündnis“ NATO, wiederum die angestrebte Souveränität zurückgewonnen hatte (Adenauers historisches Verdienst!), konnte der Kanzler ohne weiteres umschalten und seine – wohl auch ursprüngliche – Sympathie für Stauffenberg, Tresckow, Boeselager, Stieff, Oster, Moltke, Trott zu Solz, Stülpnagel, Witzleben, Beck, Olbricht und… bekunden und öffentlich bekennen: „Wer aus Liebe zum deutschen Volk es unternahm, die Tyrannei zu brechen, wie das die Opfer des 20. Juli getan haben, ist der Hochschätzung und Verehrung aller würdig“ (6. August 1954).
Revision und Gegenerklärung von Fritz Bauer
Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe verwarf am 11. Dezember 1952 die Revision Remers gegen das Urteil, das damit rechtskräftig wurde. Fritz Bauer hatte zuvor eine Gegenerklärung eingereicht, in der er zu völkerrechtlichen Fragen und zum angeblichen Landesverrat Stellung bezog. Er erklärte, Deutschland sei kein Schaden aufgrund des Misslingens des Attentats entstanden. Es habe als das „Fanal des anderen Deutschlands bewiesen, dass das deutsche Volk in seiner Gesamtheit und der Nationalsozialismus nicht das gleiche gewesen sei.“
Hinsichtlich der Behauptung, dass ein Teil der Widerstandskämpfer militärische Geheimnisse an das Ausland verraten habe – Generalmajor Hans Paul Oster und Hans Bernd Gisevius – erklärte Fritz Bauer:
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Bauer und die Grundrechte
Büro 1956 Frankfurt
Quellen:
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/1, Bl. 143.
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/1, Bl. 109f.
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/1, Bl. 24/7
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/1, Bl. 107
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/3, Bl. 477
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/3, Bl. 479
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/3, Bl. 555
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/3, Bl. 560
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/5, Bl.1018
Niedersächsisches Staatsarchiv in Wolfenbüttel, 61 Nds Zg. 41/1968 Bd. 24/5, Bl. 871ff.
Literatur:
Fritz Bauer, „Das Recht auf Widerstand und General Oster“, in: Politische Studien, 15. Jg. (1964), H. 154, S. 188-194; wiederabgedruckt in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus 1998, S. 215-223.
Fritz Bauer, „Eine Grenze hat Tyrannenmacht“ (Plädoyer im Remer-Prozess), in: Geist und Tat. Monatsschrift für Recht, Freiheit und Kultur, 7. Jg. (1952), H. 7, S. 194-200; wiederabgedruckt in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1998, S. 169-180.
Claudia Fröhlich, Wider die Tabuisierung des Ungehorsams. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Frankfurt am Main: Campus, 2006.
Peter Reichel, Erfundene Erinnerung. München: Carl Hanser, 2004.
Peter Steinbach, Der 20. Juli 1944 – Gesichter des Widerstands. München: Siedler, 2004.
Gerd R. Ueberschär, Stauffenberg – Der 20. Juli 1944. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2004.
Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903-1968. Eine Biographie. Eschenlohe: BUXUS EDITION, 2019.